Weana Gmiat – Wiener Gemüt

Ein Essay von ©Bernhard Morawetz.

Die Wiener Wirklichkeit hat es manchmal in sich. Der Wiener Charme sollte weniger als Kulturerbe gelten, denn als Faustpfand bei Abrüstungsverhandlungen. Als Flüssigsprengstoff im Parfumflacon, als Nebelwerfer des Absurden, als Superlativ des Ungesagten, als Quelle verbaler Blähungen.

Sie merken, wir befinden uns mit diesen Betrachtungen bereits dicht am Abgrund zur Wiener Seele und schaffen es nicht, einen Blick in die Tiefe zu vermeiden:

Von der Seele des Herrn Karl…
Der Wiener ist wie ein verletztes Kind. Man hat ihm seine Sandkiste mit all dem Spielzeug weggenommen. Da war eine große Monarchie, die seinem Leben eine gewisse Würde und einigermaßen Respekt verlieh und seiner Seele ein hilfreiches Korsett war. Seither will er nicht als das wahrgenommen werden, was er ist, nämlich als Bewohner eines kleinen, normalen Landes. Wer einen zu großen Mantel trägt, der kann dennoch frieren und riskiert obendrein, permanent über sich selbst zu stolpern.

Kein Wunder, dass die vielen Überstunden in diesem selbstbezüglichen Minnedienst stark ermüden. Diesen Erschöpfungszuständen und weiteren Zumutungen des Lebens bloß per Mienenspiel ein Ventil zu schaffen, ist bereits menschenfreundlich genug. Eine gewisse Strenge – nicht gegen sich selbst – gibt einem halt Halt, dem Gewissen Einhalt. Wenn man weiss, wer Schuld trägt, kann man besser richten. Wenn man weiss, wer die Macht hat, kann man sich’s besser richten. Man ist dann Teil eines Ganzen, eines Größeren, ein ganzer Mann. Solange es nicht weh tut. Dann muss man alles offenlassen, sich teilen und neu anpassen. Das zumindest hat man aus der Geschichte gelernt.

Das Leben im Konjunktiv birgt eine große Freiheit ohne die Fesseln der Verantwortung. Es perpetuiert sozusagen die Kindheit. Dieser Verlockung zu erliegen, gilt in Wien als eine von der Evolution angelegte Überlebensstrategie. Die entschlossene Aussage „Ich würde meinen, dass…“ bringt diese Lebenshaltung knallhart auf den Punkt. Eine klare Meinung zu haben ist würdelos.

Zu Recht werden Sie einwenden, in Wien gäbe es doch nicht nur den Herrn Karl, diese selbstgerechte, opportunistische, literarische Figur. So ist es auch. Und bevor er ausstirbt, wollen wir ihm schnell noch weiter auflauern…

…zur Kultur der Unfreiheit
Es ist einen Versuch wert, sich der Mentalität des Wieners aber auch von einer anderen Seite zu nähern. Versuchen wir es doch einmal mit dem Begriff der Freiheit und des Romantischen. Ein Begleitumstand der deutschen Romantik war die nicht ausgelebte politische Freiheit. Die Revolution war ausgeblieben, das Individuum suchte seine Freiräume in einer subjektiven Innerlichkeit. „Der romantische Geist ist vielgestaltig, musikalisch, …., er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, …das Unbewußte, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion….“ (zitiert aus Rüdiger Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre, München 2007).
Das Leben im Konjunktiv hat in Wien Tradition, Reden und Schwärmen ersetzen Handlungen. Auch in Wien kamen die Ideen der bürgerlichen Revolution nicht zum Zug. Zensur, Katholizismus und Spitzelwesen würgten den öffentlichen Diskurs ab, das freie Wort galt in einer höfischen Gesellschaft quasi als Stilbruch. Der Möglichkeitssinn füllte hingegen Bibliotheken. Die Verdrängung wurde zur Triebkraft entweder von Krankheiten oder von außergewöhnlichen kulturellen oder wissenschaftlichen Leistungen.

Von all diesen historisch gewachsenen Strukturen und Überlebensstrategien ist die Wiener Mentalität beeinflusst. In guten Zeiten wirkt diese Form der Gemütlichkeit schrullig oder pittoresk. Reden wir lieber nur von den guten Zeiten!